Die Sonne Nr. 2, Seite 5

Traum

 

Eine düstere Kirche, auf der Kanzel, im schwarzen Talar, hält Goethe einen Vortrag über die Monalisa. Viele hören andächtig zu.

 

Doch ich bin gekommen, die Monalisa selbst zu sehen. In der Kirche finde ich sie nicht; ich gehe, sie draussen zu suchen. Einige Freunde folgen mir bis zur Türe, zwei davon in die Nacht hinaus, auch sie kehren jedoch wieder um, bevor wir die Kirche aus der Sicht verlieren.

 

Ich folge meinen Füssen, weit durch völlige Dunkelheit, bis ich endlich in den Lichtkreis der Monalisa gelange. Einzelne Menschen umtanzen die reglose Gestalt aus flüssig-farbigem, lebendigem Licht. Eine kurze, glückselige Ewigkeit lang nehme ich an ihrem still-jubelnden Gebet teil, wissend, dass ich Zeit und Welt aus der ich komme nicht vergessen darf.

 

Die Rückkehr durch die nun noch schwärzere Nacht scheint unendlich lang, fast fürchte ich, den Weg verfehlt zu haben.

 

In der Kirche sind nur noch wenige Leute. Dahinter, auf einem grossen Platz zwischen Wohnhäusern, finde ich meine Freunde um ein Feuer herum tanzend und musizierend.

 

Bettina Zürcher, ca. 1980