Letzte Worte meines Vaters (Walter Zürcher)

Deine letzten Worte für uns, geschrieben wohl wenige Stunden vor Deinem Tod.


Ich sehe Dich an Deinem Schreibtisch sitzen, umgeben von Deinen Büchern und Bildern, von Fotos, Zeichnungen und Basteleien Deiner Kinder.


Dein Blick in die Ferne, den wir so gut an Dir kennen.


Du gehst vielleicht auch im Zimmer herum, legst Dich hin, stehst wieder auf, unruhig, von den Schmerzen und Ängsten Deines Körpers getrieben. Du zweifelst. Solltest Du nicht doch mit einem Druck auf den Alarmknopf die Ambulanz herbeirufen? Hättest Du nicht doch auf die Nachbarin hören sollen, der Du gestern über Schmerzen auf der linken Seite geklagt, und die dich drängte, Dich sofort von ihr zum Arzt bringen zu lassen?


Am Tag davor bist Du noch nicht bereit gewesen, diese Welt zu verlassen. Vor einem Monat war Dein letztes Buch fertig geworden, an dem Du zehn Jahre geschrieben hattest. Eine erste Fassung, 1200 Seiten, viel zu lang, dachtest Du. Du brauchtest noch Zeit, dachtest Du, zwei oder drei Jahre, um alles kürzer zu fassen.


Jetzt aber sagt Dir Dein Herz, dass es Zeit ist. „Ich bin gezügelt“, schreibst Du.


Vor zwei Jahren, kurz nach dem Tod unserer Mutter, Deiner ersten Frau, hast Du mich zu Dir kommen lassen, um mir zu sagen, wie Du es haben wolltest, wenn Du stirbst. Du hast mir eine Todesanzeige gezeigt, die Dir gefallen hat, wenn auch nicht unbedingt für Dich selber. „Ich bin umgezogen“, hiess es da. „Alte Adresse: Strasse sowieso, Neue Adresse: Friedhof sowieso, Grab Nr. soundso“.


„Ich bin gezügelt“ In Klammern fügst Du hinzu“ Wohnung gewechselt“.


Auf dem ersten und einzig gebliebenen Band Deiner physiognomischen Studien lässt Du Novalis sprechen: „Es gibt nur einen einzigen Tempel in der Welt, und das ist der menschliche Körper“. Diesen Tempel, diese Wohnung, verlässt Du jetzt, beziehst die ganz eigene, Dir bestimmte Wohnung, die der Vater Dir, wie uns allen, bereitet hat.


Schmerz und Angst werden weniger, weichen ehrfürchtigem Staunen, freudiger Erwartung. Deine Lieblingsmusik, Dein Wunsch für die Gedenkfeier, ist die Ode an die Freude, aus Beethovens neunter. Wenn Du stirbst, sagtest Du oft, sollten wir eigentlich ein Fest feiern, mit Musik, Tanz und fröhlichem Beisammensein. Aber Du wüsstest schon, dass wir das dann nicht wirklich könnten.


Doch am Sonntag vorher, da warst Du noch hier, unter uns, da feierten wir mit Dir zusammen noch ein grosses Fest mit Musik und Tanz, zu dem ich (fast) alle meine Freunde eingeladen hatte. Ich hatte erfahren, dass sich ein Krebs in meiner Gebärmutter eingenistet hatte und wollte mir selber zeigen, wofür es sich lohnt, noch auf dieser Erde weiterzuleben. Auch den anschliessenden Abendgottesdienst hast Du noch besucht. Thema war das Leben nach dem Tod, für die, welche von uns gegangen sind, und für uns, die wir zurückbleiben. Rückblickend ist es fast, wie wenn ich dieses Fest - auch - für Dich gerichtet hätte, eine Abschiedsfeier vom Leben hier, wie Du sie gewünscht hattest.


Immer klarer wird Dein Blick in die Ferne. Deine Augen schauen, was Du lebenslang ahntest und sehntest. Du schreibst Deinen letzten Satz:


„Das Abenteuer 'Ich bin nicht von dieser Welt’ kann beginnen.“


 

Bettina Zürcher, 15.6.2007